Trolle
Unkraut vergeht nicht. Fritzi ist der beste Beweis. Dank der Fürsorge ihrer Tochter, Bjarneys und der Nachbarschaft macht ihre Genesung neuerdings Fortschritte.Als sie, endlich allein und ungestört, Haus und Hof inspiziert, findet sie eine Reihe von Veränderungen vor: Vorratskammer und Kühlschrank sind zum Bersten gefüllt, lauter Konserven und andere lang haltbare Lebensmittel, die sie nicht mag, dazu stapelweise Fertiggerichte. Der Stall ist leer, ebenso die Hauswiese – von den Kühen keine Spur. Drinnen Sauberkeit zum Fürchten, alles ist blitzblank geputzt und riecht nach Sterilisation, sogar in den Küchenschubladen wurde gewischt – auf solche Ideen kann nur die Tochter kommen. Dafür hat sie den Gemüsegarten verwildern lassen.
So geht's ja nun nicht.
Obwohl noch etwas wackelig auf den Beinen, will Fritzi sogleich die Harke aus dem Schuppen holen, doch sie kommt nicht dazu. Kaum hat sie die Herrschaft über Bjarg zurückerlangt, lassen sich ihre Retter blicken, vorgeblich, um nach ihr zu sehen, dabei sind sie leicht zu durchschauen. In Wahrheit geht es einzig und allein darum,ihr ein schlechtes Gewissen einzureden, weil sie sich weigert, in ein Altersheim nach Reykjavíkzu ziehen. Mit ihrem Eigensinn habe sie schließlich auch ihren Lieblingsenkel vertrieben, redet sich die Tochter in Rage. Nur deswegen sei sie jetzt die Gelackmeierte und habe die Pflege an der Backe.
Pflege. Dieses Wort und die Erwähnung des Enkels bringen in Fritzi etwas zum Schwingen, ein hoher sirrender Ton erfüllt sie, bis es einen Ruck gibt, als würde die dazugehörige Saite reißen, und sie holt aus und verpasst der Tochter Backpfeifen, links und rechts. Hinterher fühlt sie sich zwanzig Jahre jünger.
Jemand schüttelt sie kräftig. Dazu isländische Beschimpfungen. Vielleicht sind es auch Fragen, die wie Beschimpfungen klingen, jedenfalls versteht Liv kein Wort, fühlt sich aber genötigt, die Augen zu öffnen. Sie blickt direkt in das Gesicht einer alten Frau. Der unangekündigte Besuch zu so später Stunde scheint unwillkommen. Wer öffnet schon gern im Morgenmantel die Haustür? Hätte sie sich besser ein Telefon zugelegt.
»Do you speak English?«, fragt Liv.
Kopfschütteln.
»Schade«, sagt Liv zu sich selbst.
»Deutsch kann ich«, antwortet die Frau akzentfrei.
Elektrisiert setzt Liv sich auf und stellt fest, dass sie sich triefnass und in voller Montur neben der Eingangstür in einem gefliesten Flur befindet. Um sie herum Wasserpfützen von geschmolzenem Schnee. Heftiger Schwindel hindert sie am Aufstehen.
»Sie müssen schon allein wieder auf die Beine kommen«, sagt die Frau. »Noch weiter kann ich Sie unmöglich hinter mir herziehen. Ich bin nicht mehr die Jüngste, ich hab's im Kreuz.« Wie zum Beweis rappelt sie sich mühsam hoch, die Hand gegen den Rücken gepresst. Das Knacken ihrer Hüftknochen ist nicht zu überhören.
Liv schätzt die Frau auf Mitte siebzig. Tönges'Alter ungefähr. Ein Gedanke keimt auf: »Sie sind nicht zufällig Inga Hreinsdottir von Tröllatunga, oder?«
»Wer sollte ich denn sonst sein? Hier draußen wohnt doch außer mir keiner mehr.«
»Lieber Himmel.« Liv kann es kaum fassen: Sie ist am Ziel. Mehr Glück als Verstand.Allerdings hat sie die Hausherrin bereits lange genug betrachtet, um festzustellen, dass es sich nicht um Tönges' Schwester handelt. Keine Familienähnlichkeit, keine Gemeinsamkeiten mit der Frau auf den Zeichnungen. Die richtige Inga würde sie auf der Stelle erkennen. Davon ist Liv inzwischen fest überzeugt. Schade. Wäre auch zu schön gewesen.
»Sie wollten zu mir?«
Liv nickt. Der Geruch der Suppe steigt ihr wieder in die Nase.
»Und warum, wenn ich fragen darf?« »Könnte ich zuerst etwas zu essen bekommen?«
Bald darauf sitzt sie im Wohnzimmer auf einem zerschlissenen Sofa mit Cordbezug, eingehüllt in eine Wolldecke, ein trockenes Gegenstück zu der von Rúnar, die jetzt über der Heizung hängt. Liv hat sich ausgezogen bis auf die Unterwäsche. Die ist zwar auch nass, aber um sich ganz zu entblößen, geniert sie sich zu sehr, sogar unter der Decke. Immerhin ist gut geheizt, wie überall in isländischen Häusern dank der spottbilligen Energie.
Inga Hreinsdottir serviert einen Teller Fischsuppe und etwas Brot, das seine besten Tage auch schon hinter sich hat. Während Liv schweigend vor sich hin löffelt, erzählt die Alte ausführlich, auf welche Weise sie den Kabeljau zubereitet und gewürzt hat.
Liv hört halbherzig zu, nickt gelegentlich und genießt das eigentlich unangenehme Kribbeln in Armen und Beinen, weil es ihr signalisiert, dass Wärme und Leben in ihre Adern zurückkehren. Sie weiß nicht, wie gefährdet sie dort draußen im Schneesturm wirklich gewesen ist, aber sie glaubt, es war knapp. Im Nachhinein ein erhebendes Gefühl.
»So, und jetzt zu Ihnen«, sagt die Alte, sobald Liv den letzten Löffel Suppe verspeist hat.
»Ich suche meinen Großvater und seine Schwester«, setzt Liv an.
»Ach ja?« Erstmals hellt sich die bislang konsequent entnervte Miene von Inga Hreinsdottir auf, als hätte der fortgeschrittene Abend nun endlich eine Wendung genommen, die ihr zusagt, und sie holt eine Flasche Branntwein, den sie »Schwarzen Tod« nennt, zwei Gläser und schenkt großzügig ein. »Dann erklären Sie mal, warum ausgerechnet ich Ihnen dabei weiterhelfen soll. Aber bitte ausführlich. Ich will die ganze Geschichte hören.«
Also erzählt Liv, erschöpft, wie sie ist. Der Schnaps erweist sich als hilfreich.Am Ende haben sie bereits drei Mal angestoßen und die Flasche zu zwei Dritteln geleert. Zuletzt zeigt sie der Alten das Foto von Tönges und die Zeichnungen. Ein Bild der jungen Inga Engel betrachtet Inga Hreinsdottir ausgiebig, abwechselnd mit und ohne Lesebrille. »Das Mädchen habe ich schon mal irgendwo gesehen.Aber ich kann mich nicht erinnern, wann und wo. Beim besten Willen nicht.«
Am nächsten Morgen. Liv steht am Fenster,einen Becher Instantkaffee in der Hand, stark, ohne Milch, den Blick auf den Fjord gerichtet. Trüber Himmel, bei klarer Sicht. Kaum einen Kilometer entfernt steht Rúnars Geländewagen auf einem vereisten Seitenarm des Fjordes, laut ihrer Gastgeberin ist das Wasser dort flach.Absolut keine Gefahr einzubrechen. Zudem hätte sie ohne die verdammte Kletterpartie zum Haus gelangen können, denn das steht direkt am Strand. Blind wegen des Wetters, hat sie den langen und gefährlichen Weg genommen.
Nicht nur diese Feststellung bereitet Liv schlechte Laune. Schlimmer ist, dass sie festsitzt. Nach dem Schneesturm ist die Piste gesperrt, mit der Ankunft des Räumfahrzeugs rechnet die Hausherrin nicht vor dem Abend. Frühestens. Die Männer, die den Schneepflug fahren, sind dazu auserkoren, Rúnars Jeep vom Eis zu holen. Ob sie ihn auch reparieren werden,das vermag Inga Hreinsdottir nicht zu sagen. Es seien hilfsbereite Jungs.
Inzwischen weiß Liv einiges über ihre Lebensretterin: Sie hat in den Westfjorden fünf Kinder aufgezogen, nachdem sie als Deutsche nach dem Krieg mit einem Fischkutter ins Land gekommen war. Der Grund: Sie hatte sich im Nachkriegsdeutschland in der Sowjetzone etwas zuschulden kommen lassen, was, das behielt sie für sich. Wie so viele der Einwanderinnen hatte sie ihren damaligen Arbeitgeber geheiratet und sitzt seitdem auf dem Hof regelrecht fest. Eine mehr oder weniger freie Entscheidung. Jetzt jedenfalls traut sie sich nicht einmal mehr bis in die Hauptstadt. Zu ihrem Heimatland und den Angehörigen im Landkreis Vechta fehlt jeglicher Kontakt, allerdings schaut sie seit Jahren mit Satellitenschüssel deutsches Fernsehen.Ansonsten ist sie mit Aderaußenwelt nur via Funkgerät verbunden. Kinder und Enkel leben in Dänemark oder in den Vereinigten Staaten. Was für eine vermurkste Biographie.
Liv, von ihrem Beobachtungsposten am Fenster nicht loszueisen, entdeckt in den vereisten Berghängen die Felsengesichter wieder, die ihr bereits in der Nacht begegnet sind, Trolle, wie sie inzwischen von ihrer Gastgeberin erfahren hat, Steine mit Seele. Sie erinnert sich, dass Tröllatunga Tal der Trolle heißt. Voller Staunen über diese mystische Landschaft, für Inga Hreinsdottir im gleichen Maße Gefängnis wie Zuflucht, macht sie sich bewusst, dass für jeden die Möglichkeit besteht, das eigene Leben gegen die Wand zu fahren. Eine Reihe von falschen kleinen Entscheidungen treffen oder eine einzige gravierende, die sich nicht korrigieren lässt – und nichts geht mehr. Oder zumindest nicht mehr viel. Sie fragt sich, ob Tönges genau das passiert ist. Und wie es mit ihr selbst ausschaut.
Liv hat doppelt Glück: Der Schneepflug erscheint kurz nach dem Mittagessen, und wie sich herausstellt, ist die Besatzung nicht nur hilfsbereit, sondern auch kompetent im Umgang mit Motoren. Es vergehen keine zwei Stunden und Rúnars Wagen parkt abfahrbereit in Inga Hreinsdottirs Auffahrt. Die Hausherrin zeigt sich wenig erfreut, hatte sie doch gerade angefangen, Gefallen an Livs Gesellschaft zu finden. Ihr Versuch, die Schneeräumer zu einer Übernachtung zu bewegen, scheitert, obschon die Piste wenige Kilometer hinter dem Hof Tröllatunga endet und die Männer insofern ihr Tagwerk bereits hinter sich gebracht haben. Doch sie wollen lieber heim nach Hólmavik, wo Ehefrauen und Kinder auf sie warten.
Auch Liv hat es eilig. Ein letztes Mal versucht sie, dem Gedächtnis der alten Dame auf die Sprünge zu helfen – vergebens: Unter welchen Umständen sie Tönges' Schwester begegnet ist, kann sie nicht sagen.
Der Abschied der beiden Frauen gestaltet sich tränenreich. Liv, nach den Ereignissen des vergangenen Tages sensibler denn je, verspricht, zu gegebener Zeit wiederzukommen, um zu erzählen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Falls es denn jemals ein Ende geben wird, das seinen Namen verdient.
Während der Rückfahrt ist sie bester Dinge. Von Angst befreit, ohne die drohende Pflicht, Rúnar beibringen zu müssen, dass sie sein Auto zu Schrott gefahren hat, ist sie erfüllt von Tatendrang. Sie wird sich auf eine richtige Beziehung mit dem Isländer einlassen, koste es, was es wolle, nicht ohne sich zuvor noch von Max zu trennen und sich zu entschuldigen, weil sie ihn hingehalten hat.Außerdem wird sie Aaron anbieten, dauerhaft bei ihr einzuziehen, falls er das möchte. Und wenn nicht, wird sie kein Stück beleidigt sein. Vor dem Leben kneifen, das gibt es bei ihr nicht mehr. Von jetzt an hat sie Rückenwind.
In Reykjavík hat es ebenfalls geschneit,allerdings ist außer kümmerlichen Matschhaufen am Straßenrand nichts mehr davon zu sehen. Mildes Tauwetter.Auf einer Verkehrsinsel blühen Narzissen.
Liv fährt direkt zur Hallgrimskirche, weil sie Rúnar überraschen will. Sie hat sich absichtlich von unterwegs nicht bei ihm gemeldet, damit sie ihre Zukunftspläne, bei deren Umsetzung er schließlich auch ein Wörtchen mitzureden hat, nicht aus Versehen schon im Vorfeld hinausposaunt. Denn sie will ihm in die Augen sehen, wenn sie ihn fragt, ob es ihm genauso ernst ist wie ihr.
Die Kirche ist verlassen, keine Touristen, keine Gläubigen. Wenn sie es sich recht überlegt, hat sie hier noch nie jemanden beten sehen, anders als in den katholischen Kathedralen im Süden. Da hocken immer irgendwelche schwarz gekleideten Witwen in den Bänken und bekreuzigen sich in einem fort. Liv fragt sich, wofür die Isländer überhaupt so eine überdimensionale Kirche benötigen. Wo sie doch so viel mehr auf ihren Aberglauben geben.
Rúnar ist da. Er sitzt an der Orgel, die Hände auf den Tasten, spielt aber nicht.Als er Liv sieht, fährt er zusammen und ruft sie so laut beim Namen, dass der Widerhall ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
»Hi«, sagt Liv.
»Was machst du denn plötzlich hier?« Komische Frage. »Ich wollte zu dir.«
Er springt auf sie zu, reißt sie in die Arme. »Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Seine Umarmung ist eine Spur zu fest, um noch herzlich zu sein. »Tut mir leid. Kein Grund, mich zu zerquetschen.«
Er lässt sofort los. »Ich hatte dich schon aufgegeben«, sagt er, und es klingt, als meine er das tatsächlich ernst.
»So schnell wirst du mich nicht los«, erwidert Liv.
Abendessen in einem Restaurant mit einem unaussprechlichen Namen: Við Tjörnina. Sie wäre lieber ins Kaffi Sólon gegangen, an ihren Stammplatz mit dem kniegefährlichen Tischbein, um ihr Herz herzuschenken, aber Rúnar wollte sie zur Feier des glücklichen Ausgangs ihres Westfjordabenteuers unbedingt zum Hummeressen ausführen. Möglicherweise ein Zeichen, dass er Ähnliches im Schilde führt wie sie.
Das ausgebuchte Restaurant, untergebracht im ersten Stock eines älteren Gebäudes, gefällt Liv:vollgestopft mit Antiquitäten in Mahagoni und Eiche, dabei nicht wirklich edel, eher eigenwillig. Besonders der Tisch, der für sie reserviert wurde: Eine Glasplatte bedeckt eine Kollage aus Oblaten, bunte Bilder mit Engeln und Heiligen, die sich Kinder früher gegenseitig in die Poesiealben geklebt haben. Im Hintergrund dudeln Schlager aus den Vierzigern – auf Isländisch eingesungen. Die Kellner sind zuvorkommend, die Meeresfrüchte exzellent. Ideale Voraussetzungen also, um zu entspannen und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Doch je gelöster die Atmosphäre – an anderen Tischen werden Krawatten gelockert, es wird gescherzt und gelacht –, desto weniger geschmeidig entwickelt sich komischerweise die Unterhaltung. Rúnar trinkt ein Glas Weißwein nach dem anderen und lässt sich dabei zum zweiten Mal ausführlich die Ereignisse während des Schneesturms schildern, begleitet von ungläubigem Kopfschütteln seinerseits und regelmäßigen Hinweisen darauf, was sie für ein Glück gehabt habe. Und wie dumm und leichtsinnig sie gewesen sei.Allmählich kann Liv es nicht mehr hören. Zumal sie nebenbei darum bemüht ist, im Hinterkopf bereits die Worte für das eigentliche Thema des Abends zu formulieren: Könntest du dir vorstellen, dass wir zusammenbleiben? Oder zusammenkommen? Oder: Ich will mit dir zusammen sein. Klingt alles ziemlich daneben.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Rúnar sieht genervt aus, wie er ständig die Stirn in Falten legt und so grob mit dem Besteck hantiert, als müsse er den Hummer erst noch erlegen. Das Messer quietscht laut auf dem Porzellan, die Leute am Nachbartisch haben schon ein paar Mal pikiert zu ihnen herübergesehen. Irgendetwas läuft gründlich schief.
»Ob du mir zuhörst, hab ich gefragt.«
»Ehrlich gesagt, nicht. Ich war in Gedanken.«
»Ach ja? Und woran denkst du?«
Liv atmet geräuschvoll ein und wieder aus. »An uns.«
Pause. Ein Anfang ist gemacht. Jetzt nur nicht zurück rudern, obschon seine Antwort alles andere als ermutigend ausfällt: »Was gibt es denn da zu denken?«
»Könntest du dir vorstellen, dass mehr daraus wird?«
»Wie mehr?«
Mistkerl. Hätte sie einen Funken Selbstachtung, wäre dies der richtige Zeitpunkt, aufzustehen und zu gehen. Liv weiß das, bleibt aber sitzen.
»Ich schätze, du weißt genau, wovon ich rede«, sagt Liv.
»Ich wollte dir eine Chance geben, deinen Antrag zurückzunehmen.«
»Es war kein Antrag, nur eine Frage.«
»Eine Scheißfrage.«
»Okay. Vergiss sie. Hab schon verstanden.« »Hast du nicht. Nichts hast du verstanden.« Liv hebt die Augenbrauen.
Rúnar greift nach seinem Weinglas, leert es in einem Zug und lässt es dann mit voller Absicht auf den Dielenboden fallen, wo es zerspringt.
»Hast du gesehen?«, fragt er, einen fiebrigen Glanz in den Augen.
Liv antwortet nicht.
»So einfach ist es, etwas zu zerstören. Damit kennst du dich doch aus – oder? Zerstörung ist doch dein Geschäft. Es geht ganz leicht, Ordnung in ein Durcheinander zu verwandeln.Andersherum ist es ein Problem. Kapiert?« »Nein.«
Inzwischen ist ein Kellner damit beschäftigt, die Scherben zusammenzukehren, nachdem er zuvor ein neues Glas gebracht und Weinnachgeschenkt hat. Liv lächelt ihm zu. Sie wünschte, Rúnar würde abwarten, bis sie wieder allein sind, doch er doziert unbeirrt weiter: »Es ist der Lauf der Dinge. Ein heiles Glas zerspringt in hundert Teile und lässt sich niemals wieder in seinen Urzustand zurückversetzen. Es hätte auch nur in drei Teile zerbrechen können oder in zehn. Egal, es ist hin. Für alles und jedes gibt es unendlich viele Möglichkeiten, kaputt zu sein, und nur eine einzige Form der Unversehrtheit. Du und ich, wir haben noch nicht mal heil angefangen.«
Was für ein wirres Gerede. Liv würde es gern dem Weißwein zuschreiben, aber eigentlich macht Rúnar keinen betrunkenen Eindruck. Der Kellner entschuldigt sich für die Störung und zieht sich zurück. Sie hat das ungute Gefühl, dass er Deutsch versteht, und stellt sich vor, wie das Personal in der Küche über sie scherzt: Die Rothaarige hat versucht, sich den Organisten zu angeln, aber der hat sie eiskalt abserviert. Wer weiß, vielleicht hat er die Nummer mit dem Glas schon oft durchgezogen.
Liv merkt, wie sie Kopfschmerzen bekommt, und tastet verstohlen nach der Beule an ihrem Kopf, dabei rutscht die Serviette vom Schoß unter den Tisch, und sie bückt sich, um sie aufzuheben. Zwischen Rúnars blank polierten Lederschuhen glitzern weitere Glassplitter. Einen größeren hebt sie auf, zusammen mit der Serviette, reibt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne sich zu schneiden.
»Manche Gläser halten eine ganze Weile«, sagt sie, den Blick auf den Splitter gerichtet. »Vorausgesetzt natürlich, es kommt niemand und schmeißt mutwillig mit ihnen herum.«
»Mag sein.Es gibt Leute, die gehen sorgsam mit ihren Sachen um.Genauso wie mit ihren Beziehungen und mit sich selbst.Aber so jemand bin ich nicht. Und ich schwöre, du auch nicht, Liv Engel.«
Nachts, allein im Hotelzimmer, ergänzen Magenkrämpfe die Kopfschmerzen. Liv kann nicht einschlafen und ist unsicher, ob der Hummer daran schuld ist oder der verdorbene Abend im Allgemeinen. Bei Meeresfrüchten kann man nicht vorsichtig genug sein. Allerdings gibt sie eher Rúnar die Schuld. Er hätte sie nicht so behandeln dürfen. Trotzdem wünschte sie, er wäre jetzt bei ihr. Sie trinkt in Rekordzeit den Rotwein aus der Minibar, eine 0,5-Liter-Flasche, und isst dazu Salzstangen. Das Kopfweh verflüchtigt sich.Auf den Magen wirkt beides weder gut noch schlecht. Wenigstens wird sie müde. Im Halbschlaf kommt es ihr vor, als würde das Bett vibrieren, und sie denkt sich nichts dabei.
Das Aufwachen am nächsten Vormittag, verlassen und verkatert, ist wahre Folter. Wie konnte Rúnar sie nur so brüsk zurückweisen, nachdem er sich zuvor dermaßen rührend um sie bemüht hat? Fast schon
aufdringlich. Sie wird nicht schlau daraus. Erst recht nicht, als er sie vordem Hotel abpasst, dem Augenschein nach ebenso unausgeschlafen wie sie.
»Hast du das Erdbeben bemerkt?«
»Nein.«
»Können wir reden?« »Nö, lass man.«
Er packt sie am Ärmel. »Ich wollte mich entschuldigen.«
»Wofür? Du hast nur gesagt, was Sache ist:Aus uns wird nichts. Das kann man auch in einem Satz rüberbringen, aber du hast eben ein paar mehr gebraucht. Und dazu die tolle Nummer mit dem Glas. Eindrucksvoll.«
Sie hat die Scherbe sogar aufbewahrt.
»Geht es auch ohne deinen Zynismus?«, fragt er.
»Nein, Rúnar, ich fürchte nicht.«
Sie macht sich los und geht die Frakkastigur hinunter Richtung Kaffi Sólon, um dort einen Kaffee zu trinken, weil sie das Hotelfrühstück verschlafen hat, danach will sie Ragnar einen Besuch abstatten. Ihre Suche ist in eine Sackgasse geraten. Sie kann ja nicht sämtliche deutschen Einwanderinnen abklappern, in der vagen Hoffnung, zufällig ihrer Großtante Inga gegenüberzustehen. Es macht einfach keinen Sinn. Wenn der Elfenbeauftragte keine Idee hat, was sie hier noch ausrichten kann, wird sie zurückfliegen. Zumal sie gestern ihre Mails gecheckt hat: Die Firma ist drauf und dran, zwei sicher geglaubte Aufträge an die Konkurrenz zu verlieren. Da ist es auch mit ein paar Anrufen aus dem Ausland nicht getan, sie muss sich kümmern. Ihr Typ wird verlangt. Womöglich sollte sie sich wieder auf die Dinge besinnen, die ihr wirklich liegen:Arbeiten und Singen nach Feierabend. Als Amateurdetektivin und verliebtes Ding ist sie jedenfalls ein Totalausfall.
»Warte doch mal.« Rúnar hat sich an ihre Fersen geheftet. »Hast du dir schon den Himmel angesehen?«
Liv blickt nach oben: Kornblumenblau, ohne Wolken.Außerdem ist es warm, mindestens zehn Grad.
»Lust auf eine Fahrt ins Blaue?«
Na, der traut sich was. Was soll der Quatsch? Liv bleibt stehen, formt die Frage mit den Lippen, ohne sie auszusprechen. »Wir sind doch nicht im Streit auseinander.«
»Nicht?«
»Nicht von mir aus. Die Sache mit uns war nicht das Schlechteste. Wir hatten es doch schön. Lass uns irgendeinen versöhnlichen Abschluss finden. Bitte.«
Wieder diese Magenschmerzen. Das Problem: Jede Faser ihres Körpers will an seiner Seite sein.Am liebsten Tag und Nacht. Ein Sehnen, stärker als jedes Gespür für den Erhalt der eigenen Würde. Selbst seine Hand nur durch den Ärmel zu fühlen ist besser, als eine ganze Nacht mit Max zu verbringen. Es hat etwas mit seiner und ihrer Haut zu tun: die ideale Reibung oder so. Sie ist süchtig nach seiner Haut.
Keine fünf Minuten später sitzt sie wieder in seinem Jeep, als Beifahrerin diesmal, und sie nehmen Kurs auf die Stadtgrenze.
Nicht nur die Lebenden wollen Fritzi aus ihrem Haus vertreiben.Auch die Wiedergänger haben genug von ihr, das lässt sich nicht länger leugnen: Der Braune, die toten Babys in der Lava, verschollene Matrosen, deren Schiffe an den nahen Klippen von Krýsuvík zerschellt sind, weil sie von den falschen Leuchtfeuern der Strandpiraten in die Irre geführt wurden -all diese armen Seelen, außerstande, den eigenen Tod anzunehmen, richten nun ihren ganzen Schmerz und ihre Rachsucht gegen sie. Sie schleichen auf Bjarg umeinander, gesichtslos, von einem bläulichen Leuchten umgeben, die Seeleute triefnass, wenn sie ihr die Hände um den Hals legen und zudrücken, bis sie keine Luft mehr bekommt. Sogar das Haus selbst hat sich mit den Geistern verbündet. Tagsüber geht ständig etwas kaputt, nachts scheint es zu stöhnen wie ein Lungenkranker. Oder wie jemand, der schreien will und es gelingt ihm nicht, weil er verschüttet ist unter Bergen von Trümmern.
Fritzi hat verstanden: Die Zeit der Zuflucht ist vorüber. Jetzt wird abgerechnet. Dazu passt es, dass rotgesichtige Männer in Anzügen im Fernsehen von einem drohenden Kollaps der Banken reden, nackte Panik im Blick.Die Krone ist fast nichts mehr wert. Wird sie alles verlieren? Oder ist sie bereits pleite? Bei solchen Dingen hilft ihr sonst der Enkel.
Als ob die Mächte des Unheils Freude daran hätten, sie mit immer neuen Vorboten zu martern, zieht eines Nachts ein Gewittersturm über das Land hinweg und begräbt ihr sorgsam wiederhergestelltes Gemüsebeet unter einer Schneedecke, die von der rötlichen Lava des Hochlandes verfärbt ist: Blutschnee.
Zwei Tage später bringt ein Erdbeben in den frühen Morgenstunden im Berghang vor dem Küchenfenster einen Troll zum Vorschein.
Als Fritzi die Fratze sieht, muss sie sich fest in die Hand beißen, um nicht loszukreischen. Ein Gesicht, das sie kennt -und nie,nie mehr wiedersehen wollte.
Wozu hätte sie es sonst lebendig begraben?
Picknick in der Wildnis mit isländischem Büchsenbier und Schokoriegeln von der Tankstelle. Sie befinden sich am Rand einer kreisrunden Schlucht. Gegenüber ein Wasserfall. Mit viel Karacho stürzt ein schmaler Strom aus Gletscherwasser über eine Abbruchkante gut zwanzig Meter in die Tiefe. Darüber ein Schleier von Gischt, Regenbogen tanzen in der Sonne.
Sie mussten eine Weile bergauf wandern, um ans Ziel zu gelangen. Liv, nach ihrem Kampf gegen den Wintereinbruch nicht in bester Verfassung, ist außer Atem, als sie ankommen, findet den Ausblick aber der Mühe wert.Überall Grün, auch zwischen den nass glänzenden Basalttafeln der Schlucht. Ihr Rastplatz ist eine Blumenwiese mit Tupfern in Gelb, Rosa und Blau. Kein Schnee weit und breit, hier herrscht Frühling. Und was für einer. Wie im Garten Eden kommt man sich vor, von einem flüchtigen Schwefelgeruch abgesehen. Vogelgesang, Wasserrauschen, Liv kaut auf einem Strohhalm, und Rúnar doziert über heiße unterirdische Quellen.Ansonsten hat er während des gesamten Ausflugs kaum etwas gesagt. Dafür haben sie sich an den Händen gehalten. Was schön war, aber nicht über die neue Befangenheit zwischen ihnen hinwegtäuschen konnte. Kein Zweifel: Die Sache mit ihnen ist gelaufen, es geht ihm wirklich nur darum, das Ende aufzupolieren.
Als Bier und Schokolade verbraucht sind und es Liv bei aller Schönheit nicht länger erfüllt, nur auf die Landschaft zu starren, betrachtet sie Rúnar ausgiebig, als wäre es wichtig für sie, sich so viele Details wie möglich einzuprägen. Je intensiver sie das versucht, desto mehr verschwimmen die Linien seines Gesichts zu einer seltsam verschatteten Maske, und er wird ihr fremder von Minute zu Minute. Eigentlich ist er ihr die ganze Zeit fremd gewesen. Daran kann auch ein langer Kuss jetzt nichts mehr ändern. Er schmeckt bereits zu sehr nach Abschied.
Liv spürt, wie ihr die Tränen kommen, aber sie weint nicht. Sollte sie kämpfen? Ist es das, was von ihr verlangt wird: um die große Liebe zu kämpfen? Aber wie? Sie kann Rúnar ja nicht zwingen, das Gleiche zu empfinden wie sie. Und vielleicht hat er ja auch nicht ganz unrecht mit seinen Ansichten über Heiles und Kaputtes.
Sie entdeckt einen Troll direkt neben dem Abgrund, steht auf, schlendert zu ihm hinüber und tätschelt seine felsige Wange. Erst fühlt sie sich auf wundersame Weise getröstet, aber dann löst sich ein Stein und trifft sie am Nacken, ein großer Brocken, der sie mit beträchtlicher Wucht erwischt, so-dass sie taumelt und für eine Schrecksekunde das Gleichgewicht zu verlieren droht. In der Tiefe brodelt der Fluss. Rúnar sitzt im Gras und rührt sich nicht von der Stelle, die Miene starr, als sei er selbst aus Stein.
Später, nachdem Liv Halt an einer Flechte gefunden und sich in Sicherheit gebracht hat, wird er behaupten, er sei zu geschockt gewesen, um ihr zu Hilfe zu eilen, und sie wird den Fehler machen, ihm das wider besseres Wissen abzukaufen.